Einführung
[Repost vom 16. Februar 2023] Nachdem der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages in einem Gutachten zum Schluss kam, dass ein allgemeines Burkaverbot in Deutschland gegen die Religionsfreiheit und damit gegen die Verfassung verstößt, soll die damalige Bundeskanzlerin Merkel die Unionsminister*innen in Bund und Ländern angewiesen haben, in ihren jeweiligen Dienstbereichen Gesetze zu erlassen, die wo immer möglich muslimischen Frauen das Tragen von Gesichtsschleiern untersagen.
Dabei gilt: ein direktes Burka- bzw. Verschleierungsverbot wäre unzulässig, da es nur muslimische Frauen beträfe und damit diskriminierend wäre. So muss ein solches Verbot als allgemein gültiges Gesichtsverhüllungs- oder Vermummungsverbot formuliert werden, das für alle Menschen gleichermaßen gilt.
Das damals CSU-geführte Bundesverkehrsministerium hat daraufhin ein Gesichtsverhüllungsverbot am Steuer von Kraftfahrzeugen beschlossen, das mit der Erkennbarkeit einer Person im Rahmen automatisierter Verkehrskontrollen begründet wurde:
„[1] Wer ein Kraftfahrzeug führt, darf sein Gesicht nicht so verhüllen oder verdecken, dass er nicht mehr erkennbar ist. [2] Dies gilt nicht in Fällen des § 21a Absatz 2 Satz 1“ (§ 23 Absatz 4 StVO).
Der Gesetzgeber hat nur eine Ausnahme vorgesehen, nämlich die Helmpflicht:
„Wer Krafträder oder offene drei- oder mehrrädrige Kraftfahrzeuge mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von über 20 km/h führt sowie auf oder in ihnen mitfährt, muss während der Fahrt einen geeigneten Schutzhelm tragen“ (§ 21a Absatz 2 Satz 1 StVO).
Weitere Ausnahmen, etwa gesundheitliche oder religiöse Gründe, sind nicht vorgesehen (an eine Pandemie wie etwa infolge von SARS-CoV-2 hat damals niemand gedacht).
Vor Einführung dieses Verbots war es möglich und durchaus auch üblich, dass Behörden oder Gerichte das Führen eines Fahrtenbuchs angeordnet haben, wenn eine Person aufgrund eines bedeckten Gesichts nicht identifiziert werden konnte. Es bestand also keine Notwendigkeit für dieses Verbot, da bereits ein geeignetes Mittel zur Verfügung gestanden hat.
Religionsfreiheit
Die Religionsfreiheit ist in Deutschland gemäß Artikel 4 Grundgesetz ein sogenanntes Grundrecht ohne Gesetzesvorbehalt. Das bedeutet, dieses Grundrecht kann nur im Falle einer Grundrechtskollision, bei der ein schonender Ausgleich konkurrierender Rechtsgüter vorzunehmen ist, eingeschränkt werden.
Ein einfaches Gesetz kann also das Grundrecht auf Religionsfreiheit nicht einschränken. Dafür muss dargelegt werden, dass die Einschränkung erforderlich ist, um Grundrechte Dritter zu wahren.
Es ist in der deutschen Rechtsprechung unstrittig, dass das Recht muslimischer Frauen auf Religionsfreiheit gemäß Artikel 4 Grundgesetz auch das Tragen des Niqabs umfasst. Ein Eingriff in dieses Grundrecht kann nur im Fall einer Grundrechtskollision erfolgen.
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Grundsätzlich gilt in der Gesetzgebung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit:
- Legitimität
- Eignung
- Erfordernis
- Angemessenheit
Legitimität bedeutet zum einen, dass der Zweck des Gesetzes dem Wohl der Allgemeinheit dient oder es für den Zweck einen staatlichen Schutzauftrag gibt. Zum anderen muss auch das Mittel selbst legitim sein. Das heißt, es darf nicht im Widerspruch zu allgemein geltenden Recht stehen.
Eignung bedeutet, dass das Mittel geeignet sein muss, den Zweck des Gesetzes zu erfüllen. Dazu gehört auch, dass Ausnahmeregelungen im Gesetz nicht dazu führen dürfen, dass der Zweck des Gesetzes zu häufig nicht erfüllt werden kann. Außerdem muss ein Gesetz vom Staat gegebenenfalls nachgebessert werden, wenn das Mittel den Zweck nicht erfüllt.
Erfordernis bedeutet, dass das Mittel erforderlich ist, den Zweck des Gesetzes zu erfüllen – und es kein milderes Mittel gibt, mit dessen Hilfe der Zweck ebenso gut erfüllt werden kann. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, stets das mildeste Mittel zu verwenden. Er ist also keinesfalls frei in der Wahl der Mittel.
Angemessenheit bedeutet, dass der beabsichtigte Zweck schwerwiegend genug ist, die Schwere eines Eingriffs zu rechtfertigen. Ist der Zweck nicht schwerwiegend, verbietet sich ein schwerer Eingriff.
Ist das Burkaverbot am Steuer verhältnismäßig?
Legitimität
Der Zweck des Gesetzes besteht darin, dass möglichst jede Person, die im Rahmen einer automatisierten Verkehrskontrolle zur Anzeige gebracht wird (dies kann stets nur die Person sein, die das Fahrzeug zum fraglichen Zeitpunkt führt, nicht der Fahrzeughalter), identifiziert werden kann. Hier kann man wohl davon ausgehen, dass dies dem Wohl der Allgemeinheit dient und damit grundsätzlich legitim ist.
Das Mittel stellt im Falle von muslimischen Frauen, die einen Niqab tragen, einen Eingriff in deren Grundrecht auf Religionsfreiheit nach Artikel 4 Grundgesetz dar. Es kann also nur legitim sein, wenn dieser Grundrechtseingriff aufgrund einer Grundrechtskollision zweifelsfrei gerechtfertigt ist.
Bisher ist allerdings keine Grundrechtskollision benannt worden, die so schwerwiegend wäre, dass sie einen Eingriff in die Religionsfreiheit muslimischer Frauen rechtfertigt (wir werden das später noch betrachten).
Es müsste also gegebenenfalls eine Ausnahme für diesen Personenkreis geben, um deren Religionsfreiheit zu wahren. Die Grundrechte sind Abwehrrechte, die das Grundgesetz den Bürgern gegen den Staat in die Hand gibt. Der Staat ist in jedem Fall verpflichtet, diese Grundrechte zu garantieren.
Eignung
Ein Gesichtsverhüllungsverbot ist nur sehr bedingt geeignet, den Zweck des Gesetzes zu erfüllen.
Dies liegt an der einen im Gesetz vorgesehen Ausnahme, den Personen, die beim Führen eines Kraftfahrzeuges der Helmpflicht unterliegen.
Sie stellen üblicherweise die größte Gruppe derjenigen, deren Gesichter beim Führen eines Kraftfahrzeugs nicht zu erkennen sind. Stand 2022 sind in Deutschland 4,78 Millionen Krafträder zugelassen. Das sind schätzungsweise 99 % der Personen, deren Gesicht beim Führen eines Kraftfahrzeuges üblicherweise nicht zu erkennen sind.
Nimmt man diese 99 % vom Verbot aus, so kann dieses Mittel unter keinem Gesichtspunkt noch als „geeignet“ gelten.
Erfordernis
Ein Mittel muss erforderlich sein, den Zweck des Gesetzes zu erfüllen, es ist stets das mildeste Mittel zu wählen, das dazu in der Lage ist.
Wir haben nun also ein Mittel, das für muslimische Frauen, die Niqab tragen, einen schweren Eingriff in ihre Religionsfreiheit darstellt. Sie können entweder gegen ihre religiösen Überzeugungen verstoßen – oder müssen auf das Führen eines Kraftfahrzeugs verzichten, für das keine Helmpflicht gilt.
Ein anderes Mittel, und zwar das geforderte mildere Mittel, wäre eine Pflicht, ein Fahrtenbuch zu führen. Das Gesetz würde dann wie folgt lauten:
„Wer ein Kraftfahrzeug führt, während sein Gesicht so verhüllt oder verdeckt ist, dass er nicht mehr erkennbar ist, ist verpflichtet, seine Fahrten zu dokumentieren.“
Durch dieses mildere Mittel könnte sogar die Ausnahme aus Satz 2 wegfallen, und alle Personen, deren Gesicht nicht mehr erkennbar ist, wären gleichgestellt.
Ein Gesichtsverhüllungsverbot ist demgegenüber gerade für muslimische Frauen mit Niqab ein sehr viel weniger mildes Mittel.
Mindestens müsste das Gesetz also an dieser Stelle dafür sorgen, dass beim Vorliegen religiöser Gründe ein Fahrtenbuch ausreichend ist, da der Zweck des Gesetzes so erfüllt werden kann, ohne dass ein Verbot erforderlich wäre.
Angemessenheit
Ein Mittel muss angemessen sein: Der beabsichtigte Zweck muss schwerwiegend genug sein, die Schwere eines Eingriffs zu rechtfertigen.
Im Falle der milderen Pflicht, ein Fahrtenbuch zu führen, würde ich von einem angemessenen Mittel sprechen – im Falle des Verbots nicht.
Ein Eingriff in ein Grundrecht ist immer ein schwerer Eingriff – ganz besonders, wenn es sich um ein Grundrecht ohne Gesetzesvorbehalt handelt, bei dem ein Eingriff eine Grundrechtskollision voraussetzt.
Kennt das Verbot also keine Ausnahme aus religiösen Gründen, ist der Eingriff so schwerwiegend, dass er keinesfalls mehr angemessen ist.
Grundrechtskollision
Gibt es ein Grundrecht, das im Fall unseres Gesetzes mit dem Grundrecht auf Religionsfreiheit kollidiert?
Das Oberlandesgericht Düsseldorf glaubt, eine solche Grundrechtskollision gefunden zu haben:
„Ein Kraftfahrzeugführer, der damit rechnen muss, dass er anhand eines automatisiert erstellten Messfotos für einen Verkehrsverstoß (insbesondere bei Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, Missachtung des Rotlichtes oder Nichteinhaltung des Sicherheitsabstands) zur Verantwortung gezogen wird, wird sich eher verkehrsgerecht verhalten als derjenige, der unter Verhüllung seines Gesichts unerkannt am Straßenverkehr teilnimmt. Mit dieser Zielsetzung dient § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz hochrangiger Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer Verkehrsteilnehmer.“ (OLG Düsseldorf Beschl. v. 7.6.2022)
Das OLG begründet die angenommene Grundrechtskollision also mit einer Unterstellung: Wer sein Gesicht verhüllt, wird sich weniger verkehrsgerecht verhalten.
Mit dieser Unterstellung wird nun also ein Grundrechtseingriff gerechtfertigt.
Allerdings gilt selbst dann, wenn man hierin eine Grundrechtskollision erkennen will, dass eine Pflicht, Fahrtenbuch zu führen, das geforderte mildere Mittel darstellt. Ein Gesichtsverhüllungsverbot ist gar nicht erforderlich – und damit unverhältnismäßig.
Fazit
Wer sicherstellen will, dass Kraftfahrzeugführer auch im Rahmen einer automatisierten Verkehrskontrolle identifiziert werden können, muss hierfür anstelle eines Gesichtsverhüllungsverbotes das mildere Mittel einer Pflicht, Fahrtenbuch zu führen, einsetzen. Das macht es auch unnötig, Ausnahmen vorzusehen, was wiederum bedeutet, das alle Kraftfahrzeugführer, deren Gesicht bedeckt ist, gleichgestellt sind.
greta@meerjungfrauengrotte.de
Disclaimer
Ich bin keine Juristin, dementsprechend handelt es sich bei diesem Artikel auch nicht um eine Rechtsberatung.